Erwin Scheddin musste nicht lange zögern, als Sylke Mues von der Volkshochschule Stolzenau ihn fragte, ob er öffentlich mit jungen Menschen über seine Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus sprechen möchte. Über seine Zeit beim Jungvolk, seine frühe Ablehnung gegen das NS-Regime und traumatische Erlebnisse. „Ich freue mich sehr, dass Erwin Scheddin an unserem Projekt teilnimmt. Aus Geschichte kann man nur lernen, wenn man sie kennt und versteht“, sagt die Organisatorin.
Nun galt es, Jugendliche zu finden. Sylke Mues hörte sich im Südkreis um und fand in Merle Klanke (13), Pia Meyer (14), Ole Witte (14) und Johanna Fahrensohn (14) engagierte Jugendliche, die gemeinsam mit dem 86-Jährigen unter dem Motto „Opa, erzähl doch mal ...“ über jene Zeit sprechen wollen, die ihn noch immer „unglaublich traurig macht.“ Am morgigen Mittwoch um 19 Uhr im Alten Bahnhof in Stolzenau wird der Senior seine Geschichte erzählen und mit den Jugendlichen und dem Publikum ins Gespräch kommen. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich, der Eintritt kostet fünf Euro.
Am Mittwoch trafen sich Erwin Scheddin und die Jugendlichen zum Vorgespräch. Die Chemie stimmte nach wenigen Minuten. „Alle wissen, was damals passiert ist. Aber in der Schule haben wir bisher nie darüber gesprochen. Ich finde es faszinierend zu erfahren, wie das damals möglich war, dass man die Jugendlichen quasi spielerisch in diese Gemeinschaft hineingezogen hat“, sagt Ole. „Ja, am Anfang hat es im Jungvolk noch Spaß gemacht, aber ich habe schnell gemerkt, dass mir dieser Drill nicht gefällt und dass dieser Spaß trügerisch ist“, antwortet Erwin Scheddin.
Hinter dem 86-Jährigen liegt eine bewegte Zeit: 1932 in Uchte geboren, zog er nur ein Jahr später gemeinsam mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre älteren Schwester in den Berliner Stadtteil Friedrichshain. „Berlin war für uns Kinder ein Dschungel. Ich erinnere mich an die jugendlichen Straßengangs, an die aggressiven Fragen, woher ich Piefke denn kommen würde. Da herrschte schon ein rauer Tonfall. Außerdem wurde mir schnell beigebracht, dass es in Berlin keine Brötchen gibt, sondern nur Schrippen“, erzählt er.
Doch Erwin Scheddin erinnert sich auch an viele weitere negative Erlebnisse, die ihn bis heute verfolgen, wie er sagt. „Wir mussten in einem Hallenbad in Berlin alle auf den Zehn-Meter-Turm. Dort oben stand dann ein Anleiter. Wer Angst hatte zu springen, der wurde gestoßen. Es war grausam zu sehen, wie sehr die Kinder Angst hatten und dann doch gezwungen wurden. Wir sollten eben zu stahlharten Männern erzogen werden“, erinnert sich Scheddin.
Und umso näher der Krieg kam, desto öfter bemerkte er auch den immer stärker werdenden Hass gegen die Juden. „Ich erinnere mich daran, wie ich sah, dass eines Tages die Straße am Alexanderplatz gesperrt war, über die ich immer mit meiner Mutter gegangen war. Wir verstanden nicht, wieso wir nicht weitergehen durften. Da sah ich, wie Menschen in einen Lastwagen einsteigen mussten. Sie hatten den gelben Stern. Ich wusste damals nicht, was mit ihnen passieren würde. Aber ich hatte schon als kleiner Junge ein ungutes Gefühl!“
Ein ungutes Gefühl hatte er auch, als er nach einem Kameraden aus dem Jungvolk in Berlin sehen sollte, da dieser nicht zum Treffen der Gruppe gekommen war. „Ich ging zum Haus der Familie und wollte nach Horst sehen. Sein Vater sagte mir, dass er seinen Jungen nicht mehr zu diesen Verbrechern schicken würde. Ich entgegnete ihm, dass er es seinem Jungen doch nicht so schwer machen solle, doch ich hatte keine Chance. Als ich dann zur Gruppe zurückkehrte, erzählte ich, dass Horst krank im Bett liegen würde. Ich log für ihn, um ihn zu schützen. Eine Woche später schaute ich dann erneut nach ihm. Ich sah, dass die Tür mit Klebeband verriegelt war. Sie hatten die Familie abgeholt und ich sah Horst nie wieder. Das macht mich bis heute sehr traurig.“